Einhornwut

Eine Kurzgeschichte

 

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Deine Liane

Ein Einhorn im Siegerland auf Mission. Das kann nur Drama geben.

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    Einhornwut

     

    Meine Kehle ist vor Wut zugeschnürt, während ich die frisch asphaltierte Schnellstraße anstarre. Rechts verläuft sie schnurgerade Richtung Bad Berleburg, links geht es nach Siegen. An beiden Seiten der Straße wiegen sich die Bäume im Wind, wispern von ihrem Leid. Ihre Wurzeln. Begraben unter Tonnen von Asphalt. Ihre Freunde, gefällt für den Fortschritt.

    Der Nebel wabert geheimnisvoll um mich herum, tanzt auf dem Straßenbelag, taucht die Bäume und Büsche in trügerisches Weiß, während das Licht des Mondes sich darin verfängt. Das sieht zwar romantisch aus, ist es aber nicht. Die schwarze, frisch geteerte Fläche zu meinen Füßen besagt nämlich eins: Ich habe versagt.

    Verdammt.

    Ich bin ein Einhorn. Das solltet ihr wissen. Man sieht es mir auf den ersten Blick nicht an, das gebe ich zu, doch betrachten wir kurz die Feinheiten. Ich hab ein glitzerndes, Sternenstaub absonderndes Horn, das ich ständig bei mir trage. Es zu verlieren wäre in etwa, als müsstet ihr ohne Arme, Beine … und sagen wir auch ohne Ohren und Mund auskommen. Meistens trage ich es als Kette um den Hals, in seltenen Fällen oben auf dem Kopf. Verschmilzt es mit meiner Stirn, werde ich zu diesem verflixten, zauberhaft weißen Pferd, auf das kleine Mädchen so stehen.

    Um unauffälliger zu sein, laufe ich als Menschenmädchen herum, allerdings gibt es Merkmale, an denen ihr Wesen wie mich gut erkennt. Ich benutze zum Beispiel Kontaktlinsen, denn wer mir in die Augen sieht, entdeckt einen Regenbogen. Keine Ahnung, was sich Mutter Natur dabei gedacht hat. Es ist nicht nur kitschig, sondern extrem nervtötend – und vor allem lästig. Das ist auch der Grund, weshalb ich meistens eine Sonnenbrille trage. Wenn ihr also im Stockdunkeln einem attraktiven, blonden, herrlich duftenden Mädchen über den Weg lauft, das eine überdimensionale Sonnenbrille auf der Nase trägt, dann ist es in achtzig Prozent der Fälle ein Einhorn. Nicht, dass es noch viele von uns geben würde.

    Was ich im Siegerland gerade treibe? Ich lebe hier. Es ist eben so, dass ein  Einhorn einen Wald zugeteilt bekommt. Ich hätte auf La Gomera auf die Bäume aufpassen und gleichzeitig im Meer baden können, ich hätte im Yosemeti Nationalpark die Sonne genießen oder im Dschungel mit den Tigern um die Wette laufen dürfen, aber nein … ich muss das Rothaargebirge beschützen. Ich weiß, das hört sich ziemlich schräg an, doch es ist, wie es ist. Ich bin das Einhorn vom Sauer- und Siegerland.

    Oder, wenn sich die Dinge weiter so schlecht entwickeln: Ich WAR das Einhorn vom Rothaargebirge.

    Schnaubend lasse ich die Schultern hängen und den Blick schweifen. Es ist dunkel. Ein Käuzchen ruft mir zu, weiter hinten blinken die Alarmleuchten der Baufahrzeuge. Die sind schwer bewacht. Der Unternehmer hat wegen meiner zahlreichen Attacken eine Menge Geld für Sicherheitskräfte ausgegeben, weswegen ich es aufgegeben habe, am Kern des Problems zu arbeiten.

    Die Straße … diese verdammte, blöde neue Straße. Die ist vor kurzem zwischen Kreuztal und Wittgenstein aus dem Boden gestampft worden und verläuft geradewegs durch das Herz des Rothaargebirges – und damit durch MEINEN Wald. Seit Jahren habe ich alles getan, um das Ding zu verhindern. Ich bin extra Kreistagsmitglied geworden und habe Petitionen ohne Ende veranstaltet, habe Leute aufgehetzt, Abgeordnete beschwatzt, habe es sogar geschafft, dass das Teil vom Bundesverkehrswegeplan verschwindet, aber nein … letztlich wurde sie doch gebaut. Seit fünfzehn Jahren terrorisiere ich jetzt die Bauarbeiter. Ich habe Vorarbeiter irgendwo im Wald ausgesetzt, Werkzeug verschwinden lassen, Bagger durch Nagetierattacken lahmgelegt und Hänge zum Einsturz gebracht. Nichts hat geholfen. Der Projektleiter ist offenbar sturer als ein Einhorn – und das soll was heißen.

    Morgen wird die Route eingeweiht. Danach brausen hier LKW, Schwerlaster und niederländische Skitouristen auf dem Weg nach Winterberg durch MEINEN Wald. Ich meine, ich bin schon der Meinung, dass wir Einhörner mit der Zeit gehen müssen. Wir können nicht jede Straße verhindern, wir können nur dafür sorgen, dass das Gleichgewicht irgendwie erhalten bleibt, doch leider trennt diese Straße Mutterbaum eins von Mutterbaum zwei – und das ist ein Umstand, der gar nicht geht.

    Deshalb bin ich jetzt hier.

    Ich betrachte den nackten Asphalt und die weißen Streifen auf der Fahrbahn, die eklig nach frisch aufgetragener Farbe miefen. Mein Griff um das Horn wird fester. Es einzusetzen ist grundsätzlich die letzte Möglichkeit, und ich tue das nicht gerne. Meistens kotze ich danach drei Tage und bin zu nichts zu gebrauchen. Aber gerade habe ich offenbar keine andere Wahl.

    Ich packe es mit beiden Händen, atme tief durch und gehe mit einem Ruck in die Knie. Das Horn leuchtet auf, glüht regelrecht und sondert Sternenglitter und Regenbogenherzchen ab. Wehe ihr lacht. Wer immer meine Magie erschaffen hat, war definitiv weiblich und hatte die geistige Reife und die Vorlieben einer Sechsjährigen.

    Kaum berührt die Spitze des Horns den Asphalt, erbebt die Straße und die Erde darunter gleich mit. Ein Riss klafft auf, der schnell größer wird. Ich werde ordentlich durchgeschüttelt, während sich der Schlitz zu einer Spalte vergrößert, sich nach rechts und links ausbreitet. Polternd reißt der Asphalt auf, stöhnt und ächzt. Ich höre das Seufzen der Erde unter mir, spüre, wie sie wieder atmen kann. Die Baumwurzeln haben endlich neuen Kontakt zur Oberfläche, zum Wind und zum Sternenlicht. Augenblicklich beginnt das Getuschel um mich herum. Die Natur redet nicht im eigentlichen Sinn, sie kommuniziert in Gefühlen und Empfindungen. Gerade eben sind die beiden Mutterbäume hellauf begeistert und begrüßen sich erleichtert. Seitdem der Asphalt ihre Kommunikationswege abgeschnitten hat, konnten sie nicht mehr miteinander tratschen. Blitzschnell tauschen sie jetzt die wichtigsten Informationen aus.

    Der Stoß in den Asphalt hat mich ausgelaugt, mir die Sinne benebelt. Schwankend stehe ich auf und atme tief durch, bereit, mein Werk an anderer Stelle fortzuführen. Da höre ich das Geräusch, direkt hinter mir. Noch im Herumwirbeln, spricht mich jemand an.

    »Was, zur Hölle, machen Sie da?« Ein Mann steht vor mir auf dem Asphalt. Mit der Taschenlampe leuchtet er mir in die Augen, weshalb ich ihn kaum erkennen kann, aber es muss ein Mann sein, der Stimme nach zu urteilen. Ich hebe die linke Hand und halte sie mir vor die Augen, schütze sie vor dem grellen Licht, blinzele. Mein Horn verstecke ich hastig hinter dem Rücken, doch gerade die Bewegung scheint ihn darauf aufmerksam gemacht zu haben. »Runter mit der Waffe«, droht er. In seiner Stimme schwingt nun Panik mit.

    Ich überlege, versuche den Typen einzuschätzen. Hat er eine Waffe? Die Sicherheitsleute haben tatsächlich welche gehabt, sie aber nicht eingesetzt, dazu war ich einfach zu schnell. Also … weglaufen oder ausschalten?

    Wie es scheint, kann der Typ Gedankenlesen. Er macht einen Schritt zurück, nimmt die andere Hand hoch. Ich sehe etwas Metallisches darin und gehe auf Nummer sicher, hebe die Arme und sage das, was wohl jeder in meiner Situation gesagt hätte: »Das war schon so!«

    Der Lichtkegel verlässt mein Gesicht, schwenkt runter auf den Asphalt, hüpft entlang des Risses, zurück, vor. Offenbar kann der Typ nicht fassen, was er sieht. Jetzt kann ich ihn auch ziemlich gut erkennen.

    Groß ist er mit breiten Schultern, aber extrem schlanker Hüfte. Vielleicht ein Ruderer? Er trägt Jeans und einen breiten Gürtel, an dem eine Menge Zeugs hängt. Handschuhe, eine kleinere Taschenlampe, irgendwas, das nach Zeichenplänen ausschaut – wobei die wohl eher im Hosenbund festgeklemmt sind. Darüber hat er eine einfache, graue Jacke und eine grellorangefarbene Warnweste angezogen. Bevor ich sein Gesicht näher betrachten kann, kehrt der Lichtkegel zu mir zurück. Ich kneife die Augen zusammen und hoffe, dass er den Regenbogen nicht gesehen hat.

    »Wie haben Sie das gemacht?«, fragt er verblüfft. Auf meine faule Ausrede geht er gar nicht erst ein. Das Licht huscht über meinen Körper, offenbar sucht er nach dem Presslufthammer im Miniformat. Ich setze meine beste Unschuldsmiene auf, aber eigentlich kann ich es auch gleich zugeben. Das Lustige ist: erzählt man die Wahrheit, glaubt es eh keiner.

    »Ich bin ein Einhorn und rette den Wald vor dem fiesen Unternehmer, der hier die Schnellstraße quer durchgebaut hat. Mit meinem Einhorn-Horn habe ich einen Magiestrahl in den Asphalt geschickt, der den Riss verursacht hat.« Ich hebe meine Hand und wedele mit dem noch immer funkensprühenden Horn herum.

    Der Typ starrt es an, was ich zwar nicht sehen, aber spüren kann. Ihm scheint es die Sprache verschlagen zu haben. »Der fiese Unternehmer, das bin dann wohl ich«, sagt er schließlich leise. »Ich bin der Projektleiter von Straßenbau NRW. Und wer sind Sie?«

    »Ich bin das Einhorn vom Rothaargebirge. Silva ist mein Name.« Allmählich habe ich den Eindruck, die Situation im Griff zu haben. Vielleicht lässt der Typ … Moment mal! Hat der gerade gesagt, er sei der Projektleiter?

    Ich stemme die Hände in die Hüften und atme hektisch ein und aus. Zum einen will ich damit die aufkommende Übelkeit zurückdrängen – der Fluch des Hornstoßes – zum anderen will ich meinen Zorn unter Kontrolle bekommen. Warum Einhörner immer als liebreizende Geschöpfe bezeichnet werden, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls jähzornig. Wehe dem, der mir krumm kommt. »Sie sind Lukas Dahlkamp?«, fauche ich aufgebracht. »DER Lukas Dahlkamp?«

    Er bewegt sich unruhig. Die Taschenlampe schwenkt hin und her, wahrscheinlich zuckt er die Schultern. »Sie sind dann wohl die Verrückte, die uns seit Jahren terrorisiert«, antwortet er erstaunlich ruhig. »Schön, dass wir uns mal kennenlernen.«

    Also als ›schön‹ würde ich das jetzt nicht bezeichnen. Dem Klang seiner Stimme nach hat er keine Ahnung, dass er sich gerade in tödlicher Gefahr befindet. Okay. Als ein mindestens ein Meter neunzig großer, doch recht muskulöser Typ hätte ich wohl auch keine Angst vor einem höchstens ein Meter sechzig großen, zierlichen Mädchen mit blonden Löckchen gehabt. Auch wenn es mir im Wald begegnet wäre. Leute, merkt euch das: Das sind die Gefährlichsten. Das sind nämlich Einhörner.

    Mittlerweile zittere ich vor Wut. Mutterbaum eins ist auf mich aufmerksam geworden, fragt durch den Riss, was los ist. Ich schicke ihr ein Bild vom Projektleiter und erkläre ihr anhand von Gefühlen – Wut, Aggression, Frust – wer er ist. Sie versteht sofort und sendet mir gleichzeitig mit Mutterbaum zwei ein einziges Bild: eine Axt mit sehr viel Blut daran.

    Augenblicklich dehne ich meine Sehnen, wärme die Muskeln durch Anspannen auf, ducke mich. Lukas Dahlkamp scheint das zu bemerken. Auch er richtet sich auf, das Metallische blitzt in der Dunkelheit. Es ist keine Waffe. Eher ein Fotoapparat. Wahrscheinlich wollte er mich auf frischer Tat ertappen. Das kann er vergessen.

    Ich starte meinen Angriff, denke nicht mehr länger über Für und Wider nach. Natur ist nicht immer rational. Es geht um Fressen oder Gefressen werden, um Kampf oder Untergang. Blitzschnell husche ich aus dem Lichtkegel fort, sprinte auf ihn zu. Ein Schritt, zwei, drei. Schon habe ich ihn erreicht. Mein Ellbogen bohrt sich Sekunden später in seine Nierengegend. Mit dem Fuß trete ich ihm die Beine weg. Er geht mit einem Keuchen zu Boden, verliert die Taschenlampe. Gut. Mit dem Fuß kicke ich sie weg. Endlich blendet mich das doofe Ding nicht mehr.

    Lukas Dahlkamp liegt jetzt auf dem Rücken, hebt die Arme, um mich abzuwehren. Mit der Linken erwische ich sein Handgelenk, verdrehe es. Seine Gelenke knacken, er schreit auf. Gleichzeitig ramme ich ihm meine Knie in den Bauch, setze mich quasi auf ihn drauf. Meine rechte Hand zuckt vor. Es ist die, in der ich das Horn halte. Es berührt ein Stück seines Hemdes, sodass es brutzelt und die Regenbogenherzchen nur so fliegen.

    In der Sekunde schüttelt Lukas Dahlkamp seinen Schock ab, reagiert. Seine Hand schafft es kurz, meinen Oberkörper wegzustoßen, aber ich bin einfach zu schnell. Ein Einhorn zu stoppen ist ungefähr so, als wenn man versuchen würde, das Ozonloch mit einem Micky-Mouse-Pflaster zuzukleben.

    Ich donnere ihm meine linke Faust so kräftig gegen die Kehle, dass er erschlafft und damit beschäftigt ist, überhaupt zu atmen. An Gegenwehr ist nicht mehr zu denken. Ich nutze die Chance, klettere rittlings auf seinen niedergestreckten Körper und hebe das Horn, bereit, es in seine Brust zu stechen.

    Er liegt einfach nur da, sieht mich aus glasklaren Augen an. Sie sind blau und erinnern überhaupt nicht an einen fiesen Unternehmer, der Wälder zerstört. Ich packe das Horn fester, bereit, es zu Ende zu bringen.

    Da sehe ich den Wasserfall. Es gibt verschiedene Zeichen in den Augen eines Wesens. In meinen ist es der für alle sichtbare Regenbogen. Ich hingegen erkenne auch in anderen Augen den Charakter in Form von Bildern – äußert stereotypische Bilder, muss ich zugeben. Erscheint eine Maus, heißt das, der Mensch ist vor Angst zerfressen. Erscheint ein Bär, heißt es, er ist mit Vorsicht zu genießen. Einen Wasserfall habe ich noch nie gesehen, allerdings weiß ich durchaus, was er zu bedeuten hat.

    Ein Auserwählter von Gaia.

    Nicht auch noch das! Schon mal was von der Gaia-These gehört? Ich will euch nicht mit Fakten langweilen, schon gar nicht in dieser Situation, aber verdammt: Die wurde wohl von einem Einhorn geschrieben, denn die stimmt. Die Erde ist ein einziger Organismus, der auf verschiedensten Ebenen wie ein Gehirn funktioniert. Das Zentrum sind die Bäume, speziell die Mutterbäume. Rasten die aus, rastet die Tierwelt aus – und letztlich rasten wir Einhörner aus. In diesen Fällen kann es zu seltsamen Erdbeben, merkwürdigen Vulkanausbrüchen und zu toten Vögeln kommen, die vom Himmel fallen.

    Oder wir greifen Vorarbeiter an, wo wir wieder zurück beim Thema sind. Fokussierungsprobleme sind übrigens schlimme Laster bei Einhörnern. Wir können zwar Millionen Sachen gleichzeitig machen, uns aber kaum auf nur eine konzentrieren.

    Doch. Ich wollte ja Lukas eine runterhauen, aber … die Gaia-Augen. Verdammt. Ich erstarre genau wie er. Sein Blick klebt am Horn, die Augen angstvoll aufgerissen, das Gesicht vor Schock verzerrt. Unter mir spüre ich das Rasen seines Herzens, das im gleichen Takt schlägt wie meines.

    Ich blinzele verblüfft, während die Zeit verrinnt, Atem um Atem um Atem. Er sagt nichts, starrt nur mein Horn an, fühlt vielleicht auch meine Aura. Die ist einerseits hell und freundlich, andererseits unheimlich und finster. Der Wolf im Schafspelz. Das Raubtier im niedlichen Gewand. Ein Einhorn.

    »Silva«, sagt er leise meinen Namen. Nicht zu ängstlich, als dass ich ihn verachten würde. Nicht zu leise, um es nicht zu hören. Nicht zu laut, um mich zu bedrohen. Einfach mein Name. »Tu es nicht. Lass uns drüber reden.«

    Ich erspüre ihn zum ersten Mal mit meiner Magie. Seine Aura ist sanft, aber kraftvoll. Ein Mann, der weiß, was er will, jedoch mit sich reden lässt. Ein rationaler Denker voller Empathie. Das ist eine seltene Mischung, genau wie das, was ich an ihm rieche. Er stinkt nach Moderne – Eisen, Teer, Ozon und Elektronik – und gleichzeitig nach Wald. Vor allem bemerke ich einen starken Geruch nach Blaubeeren. Ich liebe Blaubeeren.

    Auch er sieht mir mittlerweile in die Augen, betrachtet nicht mehr länger das sprühende Horn, sondern sieht mich an. Mich. Das Einhorn in Menschengestalt.

    »Was bist du?«, fragt er seltsam ruhig. Nur weil ich genau lausche, höre ich die Angst heraus, ansonsten wirkt er ziemlich cool in Anbetracht seiner Lage.

    »Ich bin die, die dich töten wird«, erwidere ich. Im Gegensatz zu seiner klingt meine Stimme unnatürlich quietschig. Die Situation entgleitet meiner Kontrolle und das gefällt mir gar nicht.

    Lukas wird blass, was ich ihm nicht verdenken kann. Generell hat er eine sehr schöne Hautfarbe. Luftig braun, durch die Sonne natürlich gefärbt. Der Ansatz eines dunklen Bartes ist zu sehen. Sein Gesicht ist etwas zu asymmetrisch, um es als schön zu bezeichnen, doch er ist trotzdem auffallend attraktiv. Der Schwung seines Kinns gefällt mir, genau wie die dunkelroten Lippen. Die presst er gerade vor Angst zusammen, sodass die Wangenknochen hervorstechen.

    Ein wenig erwarte ich, dass er zu diskutieren beginnt, um sein Leben fleht, doch er schweigt. Mittlerweile fühle ich die Kälte des Asphalts an meinen Knien, die Wärme seines Körpers. Der Wind hat aufgefrischt, tanzt um meine nackten Schultern. Ich trage ein einfaches Kittelkleid aus braunem Leinen. Das ist etwas hochgerutscht, sodass es nur noch knapp meine Oberschenkel bedeckt. Meine nackten Unterschenkel pressen seine Handgelenke zu Boden. Wann ich diesen fiesen Trick angewendet habe, weiß ich gar nicht mehr. Im Überwältigen war ich schon immer phänomenal.

    Das Schweigen wird langsam albern und macht die Situation nur schwieriger. Ich hätte ihn direkt töten sollen, so aber …

    Mein Magen dreht sich. Hastig beuge ich mich zur Seite und kotze neben ihn auf den Asphalt. Er zuckt zwar zusammen und verzieht das Gesicht, versucht auch ein wenig, mich von sich zu stoßen, doch ich mache mich schwer. Ein Einhorn kann viele, viele Tonnen wiegen, wenn es will. Als er die Kraft in meinen Beinen spürt, erlahmt seine Gegenwehr.

    Ich ringe noch einen Moment um mein inneres Gleichgewicht, dann wende ich mich ihm zu. Das Horn senkt sich auf seine Kehle, berührt die Haut ganz leicht. Er erzittert, als er die Macht spürt. Gleichzeitig beuge ich mich zu ihm hinunter, damit er meine Augen sehen kann. Den Regenbogen und den kalten Hass darin, wobei ich mich anstrengen muss, das Gefühl aufrecht zu erhalten.

    All die Jahre wollte ich ihn töten, zermalmen. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass wir uns nie begegnet waren. Bei meinen Protesten waren stets die Politiker vorneweg gegangen, hatten versucht, mich und meine Mitstreiter zu besänftigen. Bei einigen meiner Attacken hatte ich ihn zwar gesehen, ihn aber nicht als das erkannt, was er war: der Anführer meiner Feinde. Mein eigentliches Ziel.

    Er schluckt, sodass sein Adamsapfel hüpft und sich das Horn in seine Haut bohrt. Ein Tropfen Blut quillt aus dem winzigen Riss hervor, perlt am Hals herunter. Ich betrachte es, rieche das Salz und das Kupfer darin.

    »Geht es tatsächlich um die Schnellstraße?«, fragt er vorsichtig. »Die wird so oder so fertig, ob ich sie nun baue oder nicht. Du kannst das nicht mehr verhindern. Es tut mir leid.«

    »Warum hast du sie überhaupt gebaut?«, knurre ich. »Du bist ein Freund der Natur, das sehe ich dir an. Du solltest auf unserer Seite sein.«

    »Wer sagt, dass ich das nicht bin? Die Schnellstraße konnte niemand mehr verhindern. Ich habe nur dafür gesorgt, dass es nicht noch schlimmer kommt. Kennst du die beiden riesigen alten Buchen rechts und links der Straße? Eine von ihnen wäre gefällt worden. So verläuft die Straße jetzt zwischen ihnen. Die Buchen konnten gerettet werden.«

    Ich kneife die Augen zusammen, erzittere. »Du kennst die Mutterbäume?«

    »Wenn du die Buchen meinst, dann ja. Wir haben uns die Gegend sehr genau angeschaut. Die Umweltverträglichkeitsstudie hat bewiesen, dass es hier keine seltenen Tiere gibt, dass …«

    »Es gibt hier keine seltenen Tiere, weil sie Angst vor den Mutterbäumen haben«, unterbreche ich ihn. »Sie sind das Heiligste im ganzen Rothaargebirge – und die Straße unterbricht ihre Kommunikation.«

    Jetzt sehe ich die Panik in den blauen Augen. Er weiß, dass er um sein Leben verhandelt. »Dann lass uns überlegen, wie wir das Problem lösen können. Mich zu töten, wird nichts ändern.«

    Da hat er Recht, aber zumindest würde jemand bestraft. »Mach die Augen zu«, verlange ich. »Ich kann dich nicht erledigen, solange du mich so ansiehst.«

    Er erstarrt. Sein Herzschlag verdreifacht sich, ich rieche Schweiß und Angst. Ich hätte wetten können, dass er die Augen nicht schließt, doch genau das tut er. »Du tötest mich nicht«, sagt er heiser. »Du weißt, dass ich auf deiner Seite bin.«

    Ich presse die Kiefer aufeinander und will zustechen, spanne mich an, doch tatsächlich … ich kann nicht. Einen langen Moment verharren wir so, bis ich schließlich mit einem Ruck aufstehe. »Ich verschone dich«, erkläre ich gönnerhaft. In Wirklichkeit zittere ich bis in mein Innerstes. Es wäre tatsächlich falsch, ihn zu erledigen. »Aber mit dem Bau dieser Straße hast du großes Unrecht in den Wald gebracht.«

     

    Ich sehe noch, wie er sich aufrichtet, doch da laufe ich bereits los, verschwinde zwischen den Bäumen. Er ruft mir etwas zu. Ich ignoriere ihn, renne schneller. Mutterbaum eins verlangt nach mir. Sie ist zornig, weil ich meinen Auftrag nicht beendet habe, aber wie hätte ich ihn töten können? Er ist auch nur ein Rädchen in einem Getriebe, das die Natur ganz langsam zermalmt.

    Der Wald wird grüner. Moos und Farne wachsen hier, die Bäume sind alt und verzaubert, der Nebel huscht wie magische Schlieren zwischen ihnen hindurch. Ich laufe geradewegs zum Mutterbaum und bleibe vor ihm stehen. Er ist größer als die anderen. Die Blätter sind dunkelgrün, die Äste gewaltig, der Stamm voller geheimnisvoller Wucherungen, die wie Runen aussehen. Das verrottete Laub wispert unter meinen nackten Füßen. Ich stelle mich auf die vorderste, mit Moos bewachsene Wurzel und lege meine Hand an die zerfurchte Rinde. Ja, der Baum ist wütend und schüttelt zornig die Äste. Vielleicht hätte ich Lukas doch töten sollen.

    Bevor ich mich verteidigen kann, höre ich Schritte. Entsetzt drehe ich mich um, lausche. In der gleichen Sekunde bricht Lukas Dahlkamp aus dem Unterholz hervor.

    »Was machst du hier?«, fragte ich erschrocken.

    »Wir haben noch keine Lösung für das Problem«, erwidert er. In seinen schwarzen, kurzen Haaren sehe ich Kletten. Ein Ast hat seine Wange zerkratzt und sein Brustkorb hebt und senkt sich hektisch.

    »Aber … wie hast du uns so schnell gefunden? Es ist stockdunkel!« Ich löse mich von meinem Posten und husche zu ihm hinüber. Da erkenne ich die Fußspuren auf dem Boden. Einhornhufe. Sofort bleibe ich stehen und starre hinunter. Auch er bemerkt die Abdrücke und deutet darauf.

    »Ich dachte mir, ich folge einfach den Dingern.«

    Ich bin sprachlos. In meiner Menschengestalt hinterlasse ich keine Spuren – und schon mal gar nicht Hufabdrücke. Dass sie hier sind, kann nur eines bedeuten …

    Bevor ich den Gedanken beenden kann, reagiert der Mutterbaum. Um das Geheimnis zu schützen, wird er Lukas töten. Er schickt deshalb die Rindenfresser los.

    Die handtellergroßen Käfer jagen den Stamm hinunter. Tausende, Millionen. Ihre Chitinpanzer reiben aneinander, ein unangenehmes Geräusch, das mir sofort eine Gänsehaut verursacht. »Nein«, rufe ich laut und stelle mich schützend vor Lukas. Der scheint die Gefahr bereits erkannt zu haben, denn sein ganzer Körper versteift sich vor Unglauben. Die Armee aus Käfern kommt trotzdem auf uns zu.

    Ich ziehe mein Horn und schwenke es drohend, lasse einen Lichtbogen um mich herumtanzen. »Zurück«, befehle ich, was die Rindenfresser einfach ignorieren. Die ersten trete ich mit den Füßen, weitere verbrenne ich mit dem Horn, doch der Rest hält auf Lukas zu. Er schreit auf, als sich eine Mandibel in sein Bein gräbt. Mir bricht vor Angst der Schweiß aus.

    Solange ich mich in Gefahr befinde, kann ich damit umgehen. Ich hasse es jedoch, jemanden zu verteidigen. »Gaia hat ihn hergeführt«, schreie ich über das Schaben der Panzer hinweg. »Sie will, dass wir mit ihm reden!«

    Der Mutterbaum ignoriert meine Worte. Er will die Gelegenheit nutzen, um selbst Rache zu nehmen, doch das Problem mit der Straße wird er dadurch nicht lösen.

    Ich drehe mich um und sehe Lukas an, über den das Todesurteil gesprochen wurde. Es sei denn, ich helfe ihm. Er ist im Dunkeln durch einen finsteren Wald gelaufen, um mit mir zu sprechen, mir eine Lösung anzubieten. Ich finde, wir sind es ihm durchaus schuldig, ihn anzuhören, anstatt ihn aufzufressen. Natur hin oder her.

    Kurzerhand presse ich mein Horn auf die Stirn und verwandele mich. Theoretisch ist es verboten, in Anwesenheit von Sterblichen zu einem Einhorn zu werden, doch hier muss ich wohl eine Ausnahme machen. Der Nebel um mich herum reagiert sofort, hüllt mich ein, verleiht mir neue Form. Die Verwandlung selbst geht schnell und schmerzlos. Aus Hand wird Huf, aus Kinn wird Maul, aus Haut wird Fell. Kaum bin ich Pferd, mache ich einen Satz nach vorne, zertrete Käfer und Laub. Lukas ist zu beschäftigt, als dass er dem Einhorn Beachtung schenkt, also rempele ich ihn einfach an. Er stolpert und wäre fast gestürzt, hält sich aber im letzten Moment an meiner Mähne fest. Verwirrt sieht er meinen Rücken an, mustert meinen Kopf. Ich beiße ihm ungeduldig in den Hintern und schiebe ihn regelrecht gegen meine Flanke. Endlich zieht er sich auf mich drauf. Die Käfer klettern bereits an meinen Beinen hoch. Ein unangenehmes Gefühl, eine Mischung aus Ziepen und Kitzeln.

    Kaum ist Lukas oben, stemme ich meine kräftigen Hinterbeine in den Waldboden und mache einen Satz nach vorne, hinein in den nächsten Busch. Die Magie aus dem Horn umschwirrt mich und vernebelt mir die Sicht, aber das bin ich gewohnt. Die Instinkte übernehmen die Kontrolle. Ich presche durch das Unterholz, weiche Bäumen und Stolperfallen aus, springe über einen Graben. Lukas klammert sich irgendwie fest, ist aber eindeutig kein erfahrener Reiter. Er hat sich tief über meinen Hals geduckt, das Gesicht und die Hände in meine Mähne gepresst. Sein Atem geht stoßweise. Wahrscheinlich hat er einen Schock, vielleicht auch Schmerzen. Darauf kann ich gerade keine Rücksicht nehmen. Hakenschlagend laufe ich durch den Wald. Er ist mir so vertraut wie mein eigener Körper, möglicherweise kenne ich ihn sogar besser als mich selbst. Ihn verstehe ich, anders als so manche Reaktion von mir.

    Endlich erreichen wir die Schnellstraße. Meine Hufe klappern unnatürlich laut, ich tänzele nervös hin und her. Meine Beine wollen weiterlaufen, vor den Problemen fliehen, doch ich zwinge mich zur Ruhe. Lukas lässt sich derweil von meinem Rücken gleiten, hält sich aber weiter an mir fest. Er zittert und blutet. Einige Käfer huschen noch immer über seinen Körper, kneifen und zwicken ihn. Einer hat sich an seinem Hals verbissen. Er versucht ihn loszuwerden, woraufhin ich mich zurückverwandele und ihm helfe. Ich werfe den Käfer Richtung Wald und zücke gleichzeitig mein Horn. Mit seinem Licht vertreibe ich die letzten Viecher, während mich Lukas schweigend mustert. Sein Blick ist irgendwie unstet und ein bisschen wahnsinnig.

    »Ich bin ein Einhorn«, bestätige ich ihm das, was er zu verstehen versucht. »Und nein, du bist nicht verrückt.«

    Er räuspert sich, ringt um Fassung. »Erdrutsch«, sagt er dann.

    »Was?«, frage ich irritiert.

    »Es gibt einen Hohlraum unter der Straße, der uns schon lange Sorgen bereitet.« Er zieht seine Pläne hervor, die er Hosenbund eingeklemmt hat, und hockt sich hin. Auf dem Asphalt rollt er sie aus und deutet im fahlen Mondlicht auf einen Klecks. »Du hast schon mal einen Erdrutsch verursacht, aber er war an der falschen Stelle und hat zu wenig Schaden gemacht. Lässt du hier den Hang rutschen, wird der Hohlraum freigelegt. Mit etwas Glück sackt dann auf fünf Quadratmetern der Asphalt ab.« Jetzt lächelte er irgendwie wölfisch. In seinen Augen verfängt sich ein Mondstrahl, was ihm gut steht. »Du musst das Problem mit der Sicht eines Ingenieurs angehen. Rabiate Gewalt wird dir nichts nutzen. Hier hilft nur noch ein hinterhältiger Trick. Lass den Hang genau dort abbröckeln, um Punkt 11 Uhr. Ich sorge dafür, dass die Medien das mitbekommen. Wenn das Fernsehen den Hangrutsch live auf Video bannt, ist das Projekt gestorben und du kannst so viele Löcher in den Asphalt bohren, wie du lustig bist.«

    Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Du bist verrückt.«

    »Das ist noch immer nicht so verrückt, wie ein Einhorn, das auf das Rothaargebirge aufpasst.«

    »Wenn ich das mache, dann bist du ruiniert. Man wird dir die Schuld dafür geben.«

    »Das ist wahr und das wird mich auch hart treffen, aber immer noch besser, als von Käfern aufgefressen und auf ewig von einem Einhorn verflucht zu werden.«

    Ich mustere ihn nachdenklich. Er meint das tatsächlich ernst, also nicke ich. »Einmal Hangrutsch genau da.« Ich nicke zu der Stelle, die ein paar Meter neben uns liegt. »Den kannst du bekommen.«

    »Das dachte ich mir.« Er rollt die Pläne zusammen und drückt sie mir in die Hände. »Da steht auch meine Handynummer drauf, falls du wissen willst, wie es mir als Arbeitsloser so geht.«

    »Ich könnte dir einen Job als Einhornhilfsarbeiter anbieten. Im Sabotieren von Straßenprojekten scheinst du ganz hilfreich zu sein.« Zum ersten Mal lächele ich ihn an und sein Ausdruck im Gesicht verändert sich in der gleichen Sekunde. Sein Gesicht wird ganz weich, freundlich, sanft.

    Der Wolf im Schafspelz. Das Schaf im Wolfspelz. Lukas scheint auch nicht nur das zu sein, was ich oberflächlich sehen kann. Offenbar gilt das nicht nur für Einhörner.

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