Es war klar, dass wir nicht mehr zur Höhle zurück konnten. Mich hätten da keine zehn Waris mehr hinbekommen. Blöd nur, dass da all mein Salz und der Pickel lagen, alles eigentlich zu wertvoll, um es zurückzulassen.
Keelin hatte während der letzten zehn Minuten immer wieder versucht, mir den Weg zu versperren. Ich hatte ihn aber so unsanft in die Rippen geboxt, dass er mich sofort vorbei ließ. Jeder Muskel war verkrampft, mir tat alles weh.
Das schlimmste war der Kloß in meinem Hals, der immer dicker wurde.
Gerade waren Menschen gestorben! Menschen!
Wegen mir.
Das Bild, als Keelin einem von ihnen einfach an die Gurgel gesprungen war, ließ mich nicht los. Das Blut. Die Schreie. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass die Männer gestorben waren, weil sie mich getötet hätten. Ermordet. Keelin hatte mich lediglich verteidigt.
Aber: Wenn sie mich nicht in der Höhle entdeckt hätten, wenn ich ihnen nie begegnet wäre – dann würden sie heute noch leben. Alle.
Ich stolperte, weil sich Keelin wieder einmal vor mich gemogelt hatte. Fast wäre ich komplett über ihn hinweg gesegelt und musste mich in seinem Rückenfell krallen, um nicht zu stolpern.
Erst da bemerkte ich, dass mir heiße Tränen über die Wangen rannen. Himmel. Ich weinte? Wegen dieser Volldeppen?
Vielleicht weinte ich auch ein bisschen, weil ich endlich einsehen musste, dass Keelin nicht der kuschelige Riesenwolf war, den ich gerne in ihm sah. Auf der anderen Seite gab es auch den großen, schwarzen Wolf, der auf der Wiese lag und mit den Schmetterlingen tanzte.
Keelin war nicht böse, dachte ich, während ich ihn anstarrte. Nicht böse. Nur … unheimlich.
Immerhin leuchteten seine Augen nicht mehr in diesem dunklen Rotton. Jetzt funkelten sie in einem hellen Blau. Eine schöne Farbe. So sah er nicht mehr ganz so aus wie die Ausgeburt der Hölle.
Er war auch wieder auf normale Größe geschrumpft, zumindest für einen Veddawolf … was er ja wohl nicht war, wie der alte Mann gesagt hatte.
Mir wurde wieder ganz elend.
Verärgert wischte ich mir über die Augen. Ich durfte jetzt nicht heulen, ich durfte jetzt nicht an die Männer denken. Sie waren ja selbst schuld, bis zu einem gewissen Grad. Ich steckte nämlich in viel tieferen Schwierigkeiten: Kein Salz hieß kein gepökeltes Fleisch. Kein gepökeltes Fleisch hieß – Hungern im Winter.
Keelin brannte mir mal wieder ein Loch in die Stirn, aber ich schaute blicklos durch ihn hindurch, während es in meinem Kopf knirschte. Mein Schädel dröhnte schon vom vielen nachdenken.
Dann endlich sah ich ihn an.
Er hatte den liebsten Blick aufgesetzt, über den er verfügte. Um noch unschuldiger zu wirken, legte er sogar den Kopf schief und ging etwas in die Knie, um weniger bedrohlich zu wirken.
Erst da erkannte ich, dass es auch ihm schlecht ging. Er hatte Angst, dass ich vor ihm Angst hatte.
Diesen Gedankengang musste ich erst einmal analysieren. Hatte ich Angst? Nein. War ich geschockt über das, was er konnte? Definitiv. Aber…
Ich ging vor ihm in die Hocke und umschlang seinen dicken, wuscheligen Hals mit beiden Armen, vergrub mein Gesicht in seinem Fell.
„Es wird alles wieder gut, Keelin!“, sagte ich. „Es war meine Schuld. Entschuldige. Ich hätte niemals aus der Höhle rauskommen dürfen. Du musstest sie töten. Es tut mir leid!“
Keelin winselte.
Ich ließ seinen Hals los und packte stattdessen seine Lefzen. „Aber ohne Salz bin ich aufgeschmissen. Wir müssen die Eimer holen. Glaubst du, das ist zu gefährlich?“
Wie immer reagierte Keelin nicht direkt auf meine Frage. Stattdessen löste er sich von mir und baute sich vor mir auf, starrte auffordernd auf seinen Rücken. Ich verstand und zog mich auf ihn drauf.
Wir waren noch nicht wirklich weit von der Höhle fortgewandert. Ich war so in Gedanken versunken gewesen – so mit Heulen beschäftigt -, dass ich nur getrottet war. In fünf Minuten waren wir am Feuer der Männer, das jetzt nur noch verlassen vor sich hin glimmte. Zwei Sprünge, dann waren wir über die Salzsteine und noch ein Sprung und wir standen in der Höhle.
Ich schnappte mir die Eimer, vertüddelte sie auf Keelins Rücken, Pickel noch dazu gehängt – und schon rannten wir zurück in den Wald. Ich bemühte mich krampfhaft, nicht in Richtung Kampfplatz zu schauen. Offenbar hatten die Männer ihre Toten einfach liegen gelassen.
Ich hörte das Krächzen eines Raben, riesige Viecher, so groß wie Taruls. Sie fraßen nur Aas.
Den Rest des Tages huschten wir so schnell es ging durch den gefährlichen Wald. In meinem Nacken klebte die Angst, dass die Männer uns verfolgten. Ein unsinniger Gedanke: Sie konnten froh sein, dass sie Keelins Angriff überlebt hatten. Und trotzdem: Sie wussten jetzt, dass wir in diesen Wäldern lebten.
Eine Hexe und ein Monster.
Menschen wollten grundsätzlich das töten, vor dem sie Angst hatten. Diese Menschen hatten Angst gehabt, Todesangst. Und das wiederum machte mir Angst.
Nach gut zwei Stunden mussten wir langsamer gehen: Meine Schulter schmerzte so sehr, dass ich meinen Oberkörper nicht mehr richtig bewegen konnte – und diese Schonhaltung führte wiederum dazu, dass mir bald auch die Hüfte wehtat. Nach drei Stunden war ich nahezu fußlahm und schleppte mich nur noch dahin. Auf Keelins Rücken war kein Platz mehr für mich, also musste ich die Zähne zusammenbeißen und weitergehen.
Immerhin: Meine tausend Sorgen ließen mich nicht los und lenkten mich von meinen Schmerzen ab.
Mir war klar, dass ich ohne Keelin tot gewesen wäre – und zwar in doppelter Hinsicht. Die Männer hätten mich erschossen … wie ein Stück Vieh. Außerdem hätte mich der Wald geholt: in Form der Nahuat-Schlange, der Veddawölfe oder eines Taruls. Diese Raubtiere spürten Schmerzen und hätten mich sofort als Opfer ausgemacht. Ich wäre noch an diesem Tage gestorben. Ein echt beunruhigender Gedanke.
Dank Keelins Anwesenheit schafften wir es aber tatsächlich zurück zur Hütte. Es war ein langer Weg gewesen – und er wurde nicht einfacher.